Schottische Unwägbarkeiten: Vor der Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands
Es könnte eng werden. In einer Woche stimmt Schottland darüber ab, ob es unabhängig von Großbritannien werden will. Während es lange so aussah, als wenn eine klare Mehrheit für den Verbleib in Großbritannien votieren würde, schwenkte die Stimmung laut Umfragen in den letzen Tagen merklich um. Beide Lager, die von Alistair Darling angeführte pro-britische „Better together“-Kampagne und die nach Unabhängigkeit strebende „Yes Scotland“-Kampagne um Alex Salmond, liegen inzwischen gleichauf. Das kommt für viele überraschend, zu deutlich war bis dato der Vorsprung der Abspaltungsgegner. Zudem erschien Salmond in den Fernsehdebatten nur wenig überzeugend – und das obwohl er gemeinhin als der bessere Redner gilt. Darling war es gelungen, seinen Kontrahenten mit Fragen nach der politischen und ökonomischen Zukunftsfähigkeit und insbesondere nach der Währung, die das unabhängige Schottland denn zu benutzen gedenke, vor sich her zu treiben. Nach einigem Lavieren in der heiklen Währungsfrage plädierte Salmond dafür, das britische Pfund auch als eigenständiger Staat beizubehalten. Das brachte ihm einiges an Unverständnis und auch Spott ein. Ob dies rechtlich, politisch und ökonomisch überhaupt möglich, sinnvoll oder auch nur wünschenswert sei, wurde kontrovers diskutiert.
Paul Krugman findet es auf seinem New York Times-Blog jedenfalls höchst erstaunlich, dass die Unabhängigkeitsbefürworter so tun würden, als wenn Schottland das britische Pfund einfach so – und ohne größere Probleme – weiterbenutzen könnte. Das Beispiel des Euro zeige doch überdeutlich, so Krugman, dass es höchst problematisch sei, eine Währung ohne eine wirkliche fiskalische Integration zu teilen. Schottland würde sich, ganz ohne Mitspracherecht, abhängig von der „Bank of England“ – der Zentralbank des Vereinigten Königsreichs – machen und wäre auf deren Gutdünken angewiesen. Schottland könnte damit am Ende sogar noch schlechter dastehen, als heute die Europäische Union. Die Schotten sollten sich diese Gefahr jedenfalls vor Augen führen, bevor sie zur Abstimmung schritten, so Krugman.
Dass sich ein EU-Mitgliedsstaat möglicherweise aufspaltet ist ungewöhnlich und wirft viele Fragen auf: Bliebe ein unabhängiges Schottland automatisch Mitglied der NATO und der EU oder müsste es ausgeschlossen werden und die Mitgliedschaft neu beantragen? Und wie lange würde es in diesem Fall dauern, wieder Mitglied zu werden? Es gibt hier im Grunde keine Präzedenzfälle auf die man sich berufen könnte.
Und dies wirft wiederum die Frage auf, warum die Stimmung eigentlich so dramatisch zugunsten der Unabhängigkeitsbefürworter kippen konnte, obwohl diese gewichtigen Fragen unbeantwortet im Raum stehen. Eigentlich müsste man doch annehmen, dass sich die Schotten angesichts dieser Ungewissheit eher für das „Sichere“ und „Bewährte“ und damit für den Verbleib im britischen Verbund entscheiden würden. Zumal den Schotten für den Fall, dass sie gegen die Unabhängigkeit votieren, jüngst mehr Autonomierechte von London versprochen wurden.
Liest man Molly und John Harveys Beitrag auf openDemocracy, bekommt man eine Idee, worin der Aufschwung der Unabhängigkeitsbefürworter begründet liegen könnte. Sie wägen das Für und Wider der schottischen Unabhängigkeit zwar durchaus gegeneinander ab, gelangen aber zu dem Schluss, dass sich den Schotten nächste Woche die einmalige Chance biete, eine gerechtere und bessere schottische Gesellschaft zu schaffen, selbstbestimmt und jenseits des überkommenen Westminster-Systems, das den Schotten nur wenig Raum für eigene Entscheidungen lasse. Dafür müsste man auch Risiken in Kauf nehmen. Die Hoffnung auf einen Wandel sei allemal besser, als ängstlich am unbefriedigenden Status quo festzuhalten. Mit Großbritannien, der EU oder der NATO ließen sich dann sicherlich irgendwie pragmatische Lösungen für ein zukünftiges Miteinander finden.
Hoffnung, positive Visionen und Emotionen, all dies ginge dem „Better together“-Lager so ganz ab, wie Michael Streck auf seinem Last Call-Blog feststellt. Viel zu lange habe man kleinlich auf mögliche Risiken und Gefahren der schottischen Unabhängigkeit hingewiesen. Man habe sich in Schwarzmalerei geübt und auf das Setzen positiver Anreize verzichtet. Ganz anders die Unabhängigkeitsbefürworter, um den begabten Redner Salmond. Sie hätten es vermocht, die Schotten zu packen und mitzureißen. Und da wundert sich Streck fast schon, warum die „Yes Scotland“-Kampagne nicht mit einem deutlichen Vorsprung in den Umfrage vorne liege.
Apropos Schwarzmalerei: Sinoaidh Douglas-Scott wendet sich in einem Beitrag auf dem Verfassungsblog gegen das oft von Unabhängigkeitsgegnern hervorgebrachte Argument, ein staatlich autonomes Schottland müsste zwingend die EU-Mitgliedschaft neu beantragen. Ein Ja zur Unabhängigkeit würde dann gleichzeitig einen Austritt aus der EU bedeuten. Douglas-Scott hält dies nicht für plausibel. Es ließen sich durchaus gute Gründe dafür finden, dass Schottland auch als unabhängiger Staat Mitglied der EU bleiben könnte. Die rechtliche Lage sei hier zwar durchaus unterschiedlich auslegbar, Douglas-Scott betont jedoch, dass die EU in neuen und überraschenden Situationen immer wieder auch pragmatisch und undogmatisch gehandelt habe – etwa als man das wiedervereinigte Deutschland auch ohne langwierige Verhandlungen aufgenommen habe. So pragmatisch könnte und sollte die EU auch hinsichtlich Schottlands verfahren, wenn sich die Schotten denn für die Unabhängigkeit entscheiden sollten.
Joseph H.H. Weiler ist sich in seinem Beitrag auf dem Verfassungsblog sicher, dass sich schon ein Verfahren finden lassen würde, in dessen Rahmen Schottland zur gleichen Zeit die eigene Unabhängigkeit und den Beitritt zur EU vollziehen könnte. Das eigentliche Beitrittsverfahren müsste Schottland dabei aber schon durchlaufen, konstatiert Weiler. Ihm geht es aber gar nicht so sehr um die technisch-juristische Seite des Ganzen. Äußerst skeptisch steht Weiler der möglichen schottischen Unabhängigkeit und der sofortigen (Wieder-) Eingliederung in die EU aus einem anderen Grund gegenüber: Er befürchtet, dass der schottische Präzedenzfall einen für die EU äußerst gefährlichen Dominoeffekt auslösen könnte. Wenn eine Abspaltung so weich abgefedert sei, könnte dies andere dazu verleiten, dem schottischen Beispiel zu folgen. Und wenn man jetzt relativ reibungslos ein unabhängiges Schottland in die EU aufnehmen würde, könnte man dies anderen Kandidaten nicht verweigern, wenn diese ebenfalls den Weg einer demokratisch legitimierten Volksabstimmung wählen würden. Doch dieser Tendenz der inneren Zersplitterung und neuen Nationalismen gelte es entgegenzutreten, sie passe nicht zu einem modernen, offenen Europa, so Weiler.
Nun bleibt England, Wales und Nordirland – und auch dem restlichen Europa – zunächst einmal nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie sich die Schotten nächste Woche entscheiden werden. Der Ausgang der Abstimmung scheint ebenso offen, wie die vielen Fragen, die nach einer möglichen Abspaltung beantwortet werden müssen.